25.04.2024 - 11:45 | Quelle: Transfermarkt.de | Lesedauer: unter 14 Min.
Bundesliga
Jürgen Klinsmann
TM-Interview, Teil 1 von 3 

Klinsmann über Tonnentritt: „Stand weinend vor Trapattoni und sagte: ‚Mister, es tut mir leid‘“

Jürgen Klinsmann über Spielerkarriere, Tonnentritt & Image nach Hertha
©TM/IMAGO

Transfermarkt: Auf dem Weg zum EM-Titel haben Sie sich als Kapitän im Viertelfinale gegen Kroatien, das mit harten Bandagen geführt worden ist, einen Muskelfaserriss zugezogen. Sie wurden innerhalb von nur sieben Tagen fürs Finale fitgemacht. Wie ist diese Wunderheilung zustande gekommen?


Klinsmann: Da kam einiges zusammen. Das war meine einzige Muskelverletzung, die ich je in meiner Karriere hatte. Ich hatte gutes Heilfleisch. Mannschaftsarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und Physiotherapeut Hans Montag kannten mich in- und auswendig und haben eine Woche lang jeden Tag daran gearbeitet. Vor dem Endspiel sind wir im Regent's Park nahe dem Hotel joggen gegangen, und nach 20 Minuten hat die Wade zugemacht. Dr. Müller-Wohlfahrt sagte mir: ‚Mach dir nichts draus, morgen bist du bereit. Das kriegen wir hin.‘ Und so ist es auch passiert. Ich hatte nicht einen Moment Probleme im Spiel, auch die Verlängerung war für mich kein Thema. Ich konnte es auch nicht fassen, aber es hat so funktioniert. Deswegen bin ich der medizinischen Abteilung für immer dankbar.


Transfermarkt: Sie hatten ernsthaft nicht auch nur im Ansatz Beschwerden?


Klinsmann: Nein. Das Adrenalin war so hoch. Und wir wollten dieses Turnier um jeden Preis gewinnen, wenn wir schon England im Elfmeterschießen ausschalten. Wir wussten aber sehr wohl, wie gut diese tschechische Mannschaft ist. Da standen Top-Leute auf dem Platz. Gegen sie war viel Arbeit und auch ein bisschen Glück notwendig. Natürlich schaute der Keeper (Petr Kouba; d. Red.) bei Olivers Golden Goal nicht gut aus. Aber das haben wir gerne mitgenommen. (schmunzelt)



Klinsmanns Erfahrungen mit Trainern und der Tonnentritt unter Trapattoni


Transfermarkt: Am häufigsten liefen Sie unter Giovanni Trapattoni (125-mal), Arsène Wenger (84) und Arie Haan (71) auf. Welcher Trainer hat Sie am meisten beeinflusst?


Klinsmann: Ich hatte zu 90 Prozent Trainer, die mir geholfen und mich geführt haben. Genau das brauchst du auch: einen Trainer, der dir zur Seite steht und etwas erlaubt, wenn du Blödsinn gebaut oder eine schlechte Phase hast. Derjenige, der mich während meiner Karriere mit seiner Art und Geduld sicherlich am meisten geprägt hat, war Berti Vogts. Diese Wertschätzung besteht bis heute, wir telefonieren ständig. Er hatte mich schon als U16-Spieler für die Junioren-Nationalmannschaft nominiert, nach einer Pause war ich bei der U21 unter ihm vermutlich der einzige Zweitliga-Spieler – und später war er für lange Zeit mein Cheftrainer. In den USA hat er mir als Trainer ebenfalls sehr viel geholfen. Auch wie Franz Beckenbauer das ganze Umfeld mit seiner Art und Weise bei der WM 1990 geführt hat, war für mich sehr prägend.


Transfermarkt: Was blieb Ihnen von Ihren Trainern noch dauerhaft im Gedächtnis?


Haan, Rehhagel & Co. Klinsmanns Leistungsdaten nach Trainern Hier geht's lang Klinsmann: Es gab einen Satz, den ich nie vergessen werde. Eines Tages kam Arie Haan in Stuttgart auf mich zu und sagte: ‚Junge, du musst gehen!‘ In der Saison hatten wir es bis ins UEFA-Cup-Finale gegen Napoli geschafft. Ich fragte den Trainer, ob er nicht wolle, dass ich bleibe und wir vielleicht mal einen Titel gewinnen. Er meinte: ‚Nein, du musst gehen, deine Welt ist woanders, in Italien.‘ Dort seien alle guten Spieler. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger spielte die Crème de la Crème des Fußballs in Italien. Das war ein kleiner Tritt in den Hintern. Ich sollte mich mit den Besten messen. Ich fand es toll und weitsichtig von Arie Haan, dass er mir den Mut gab.



Ich kam morgens zum Training und habe gefragt, wo die Trainer sind. Die Antwort war: Die sind zurück in Argentinien. Das war der Wahnsinn.



Transfermarkt: Bei Inter bekamen Sie es mit Trapattoni zu tun, bei Monaco mit Wenger.


Klinsmann: Ich hatte die Ehre, zwei Jahre mit Giovanni Trapattoni bei Inter zu arbeiten. Arsène Wenger galt damals in Monaco schon als Erneuerer und Vorreiter des Fußballs, hatte Ernährungsberater an seiner Seite. Alles was er tat, passierte auf einer Ebene, die man heute gewohnt ist. Auch Otto Rehhagel hat mir in dem einen verrückten Jahr beim FC Bayern viel mit auf den Weg gegeben, das habe ich bis heute im Hinterkopf. César Menotti habe ich nur vier Monate bei Sampdoria erlebt, bis er Hals über Kopf mit seinem ganzen Trainerstab zurück nach Buenos Aires ging, weil er vom Präsidenten zwei Spieler nicht bekam, die er kaufen wollte. Ich kam morgens zum Training und habe gefragt, wo die Trainer sind. Die Antwort war: Die sind zurück in Argentinien. Das war der Wahnsinn. (lacht). Aber er war ein herzlicher und unglaublich weiser Trainer und Mensch. Ich habe ihn Jahre später immer wieder getroffen und besucht.


Transfermarkt: Am 10. Mai 1997 traten Sie, als Sie beim FC Bayern für den Vertragsamateur Carsten Lakies von Trapattoni gegen Freiburg (0:0) zehn Minuten vor Ende ausgewechselt wurden, wutentbrannt in eine Werbetonne der Firma „Sanyo“.


Klinsmann: Ich weiß nur, dass es die Tonne nach wie vor gibt und sie im Museum steht. Der Tritt hat verdammt wehgetan. Ich hatte mir das Sprunggelenk komplett aufgeschlitzt, es hat wie blöde geblutet. Mir ist in einem Bruchteil von Sekunden klar gewesen, dass ich einen mega Bock geschossen habe. Dem war eine Auseinandersetzung auf Italienisch vorausgegangen, Trap und ich hatten uns hin und her gefetzt. Ich habe mich nach dem Spiel sofort bei der Mannschaft und auch bei ihm in der Kabine entschuldigt. Das hätte nämlich nie passieren dürfen. Ich stand weinend vor ihm und sagte: ‚Mister, es tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.‘ Da meinte er: ‚Ist schon vergessen. Kein Problem. Das passiert mal aus der Emotion heraus.‘ Die Tonne hat mich danach natürlich verfolgt. (lacht)


Unvergessene Szene in den Bundesliga-Highlights: Jürgen Klinsmann und der Tonnentritt beim FC Bayern
Unvergessene Szene in den Bundesliga-Highlights: Jürgen Klinsmann und der Tonnentritt beim FC Bayern


Klinsmanns Weiterbildung nach dem Karriereende: Besuch bei Los Angeles Lakers & Oakland Athletics


Transfermarkt: Wäre der Trainer Klinsmann mit dem Spieler Klinsmann klargekommen?


Klinsmann: Schwer. Ich war nicht einfach zu händeln. (lacht) Ich neigte dazu, sehr ungeduldig zu sein. Wenn es nicht so lief wie erwartet, war ich in dem Moment nicht angenehm. Wobei ich irgendwann wusste, wie ich mich beruhige. Wenn ich in der Halbzeitpause sauer war, habe ich mich kurz in die Dusche verabschiedet, ein paar Mal durchgeschnauft und bin wieder rein in die Kabine. Ich hatte ein bisschen dieses Jähzornige in mir, das hier und da ausbrach. Aber das hat sich über die Jahre ein wenig gelegt.


Transfermarkt: Wie habe Sie die Zeit genutzt, nachdem Sie Ihre Fußballschuhe an den Nagel hingen?


Klinsmann: Nach meinem Karriereende in Amerika (bei Orange County; d. Red.) musste ich erst einmal herausfinden, was mit mir passieren und ich mit meinem Leben machen soll. In Amerika kannte mich keine Sau und es interessierte niemanden, was ich vorher im europäischen Fußball gemacht habe. Ich habe Fortbildungen gemacht, habe Unterricht an einem College genommen und bin zu Adidas nach Portland geflogen. Es war für mich immer interessant, woanders reinzuschauen. Ich durfte Phil Jackson beim Training der Los Angeles Lakers über die Schulter schauen und habe erklärt bekommen, wie sie Videoanalysen in der NBA umsetzen. Ich war bei Pete Carroll, der damals Trainer der Football-Mannschaft der University of Southern California war und später den Super Bowl gewann. Oder bei Billy Beane und den Oakland Athletics in die Bay Area – wo meine Frau herkommt – , um zu studieren, wie mit Daten umgegangen wird. Heute ist der ganze Fußball datengetrieben, jeder Ballkontakt wird gemessen, Expected Goals werden erfasst und vieles mehr. Die FIFA hat das in Katar zum großen Thema gemacht, ich durfte einen Monat lang mit Datenanalysten arbeiten. Ich hätte nie gedacht, wie darauf geschaut wird.



Ich bin total happy mit jedem Abschnitt als Spieler – und so bin ich es eigentlich auch als Trainer. Anfangs wollte ich gar keiner werden.



Transfermarkt: Ein erfolgreicher Fußballer macht noch lange keinen Top-Trainer, heißt es. Sie haben als Spieler alles erreicht. Wie zufrieden blicken Sie auf Ihre Trainerkarriere bis zum heutigen Tag? Ist alles wie erwartet aufgegangen oder hätte es vereinzelt ein wenig mehr sein dürfen?


TM-Archiv Alle News rund um Jürgen Klinsmann Zur Übersicht Klinsmann: Ich bin niemand, der in der Vergangenheit lebt. Ich bin total happy mit jedem Abschnitt als Spieler – und so bin ich es eigentlich auch als Trainer. Anfangs wollte ich gar keiner werden. Berti Vogts hat mich zum Trainerkurs mit den ehemaligen 90er und 96er Spielern überredet. Heute bin ich extrem dankbar für jeden Abschnitt. Wenn ich an das Sommermärchen denke: Das war emotional gar nicht mehr in den Griff zu bekommen. Das eine Jahr beim FC Bayern war unglaublich intensiv, jeder Tag praktisch eine Lehre. Amerika war phänomenal. Andere Länder zu bereisen und Spiele in ganz anderen Gegenden zu bestreiten. Natürlich begleiten mich die Medien immer mit einem kritischen Auge. Wenn wir nicht gewinnen, werde ich vernichtet oder es werden zig Argumente gefunden. Das Thema Hertha BSC hat mir vom Ruf her sehr geschadet, weil ich nach zehn Wochen selbst gegangen bin. Da hätte ich hinterher auch gar nichts mehr reparieren können, mir hätte eh keiner mehr zugehört und meine Geschichte hören wollen. (lacht)



Interview: Philipp Marquardt


Morgen im zweiten Teil: Jürgen Klinsmann über seinen aufsehenerregenden Abgang bei Hertha BSC und die ungewollte Veröffentlichung seines Arbeitsberichts, den Spielerkrach vor seiner Entlassung in Südkorea und das Duell als USA-Coach gegen Deutschland.


Seite:

Anzeige 
Weitere News

Letzte Beiträge Newsforum

SVW-MS SVW-MS 26.04.2024 - 09:02
Nett zu lesen.

Es zeigt aber, dass die enorme Erfahrung, die er gesammelt hat, und die zahlreichen Fehler, die er bei anderen erlebt hat, nicht ausschließen, eigene Böcke zu schießen.

Vor allem: Jemand wie er ist als Trainer untauglich! Es braucht, was man heutzutage "Commitment" nennt - sich langfristig auf eine Sache einzulassen. Das war nicht sein Ding und dadurch hat er - nicht erst, seit er als Bundestrainer bei jeder sich bietenden Gelegenheit ab nach Kalifornien flog - viel an Glaubwürdigkeit verloren.

Und wie er für seine Heißmacher-Ansprachen im Zuge des Sommermärchen-Käses abgefeiert wurde - sowas von peinlich. ("Arne, musch laufe!")
WestGDB49 WestGDB49 25.04.2024 - 22:32
Zitat von schlckr7
Zitat von Deadeye123

Zitat von Klinsmann

Und wenn es mal nicht passt, was ganz normal ist im Leben, wenn man beruflich oder privat mit Menschen zu tun hat, geht es darum, respektvoll auseinanderzugehen



Fantastisch. Die Aussage lädt wirklich zum Lachen ein, wenn man bedenkt wie schäbig sein Abgang bei uns gewesen ist.

Klinsmann war mir durch seine Zeit bei der Nationalmanschaft und sein charismatisches Auftreten immer sympathisch, aber als er bei uns war, habe ich gemerkt dass der Mensch sich in erster Linie immer selbst am nächsten war.


Haha ja, das war ein spektakulärer Drop-The-Mic Auftritt. Knapp 10 Wochen dabei, aus heiterem Himmel morgens schnell in die Geschäftsstelle und allen gesagt, dass Schluss ist - Facebook Post gedropped und dann ab nach Kalifornien.

Im Vorbeigehen noch den Bericht dagelassen, wie scheiße und hoffnungslos alles ist.


Kann man natürlich alles als egonzentrisch kritisieren. Aber man kann es auch andersherum sehen: Klinsmann ist Change-Manager und hat ja perfekt analysiert was bei der Hertha nicht läuft. Er hat nach ein paar Wochen gesehen, dass er in den vorhandenen Widerständen nichts machen kann und dann Systemisches Denken angewandt: Möglichst großer Knall, um das System in Bewegung zu bringen.
ProfessorFootball Holzwickeder SC ProfessorFootball 25.04.2024 - 20:18
Klinsi ist auf jeden Fall ein interessanter Typ, voller Energie und mit einem interessanten Ansatz die Dinge zu sehen. Er war als Spieler etwas unkonventionell und ist das wohl auch als Mensch, aber offenbar ist er auch Recht selbstreflektiert. Auf jeden Fall ein Typ, über den es Spaß macht etwas zu lesen und zu hören, ohne dass man jede seiner Aktionen bewerten muss.
Autor
PhilippMrq
Philipp Marquardt
TM-Username: PhilippMrq

Alle Beiträge des Autors
Jürgen Klinsmann
Karriereende
Jürgen Klinsmann
Geb./Alter:
30.07.1964 (59)
Nat.:  Deutschland Vereinigte Staaten
Akt. Verein:
Karriereende
Vertrag bis:
-
Position:
Mittelstürmer
Marktwert:
-
Arie Haan
Vereinslos
Arie Haan
Geb./Alter:
16.11.1948 (75)
Nat.:  Niederlande
Akt. Verein:
Vereinslos
Aktuelle Funktion:
Technischer Direktor
Jürgen Klinsmann
Vereinslos
Jürgen Klinsmann
Geb./Alter:
30.07.1964 (59)
Nat.:  Deutschland Vereinigte Staaten
Akt. Verein:
Vereinslos
Aktuelle Funktion:
Trainer
Giovanni Trapattoni
Karriereende
Giovanni Trapattoni
Geb./Alter:
17.03.1939 (85)
Nat.:  Italien
Akt. Verein:
Karriereende
Aktuelle Funktion:
Trainer
Hertha BSC
Gesamtmarktwert:
45,20 Mio. €
Wettbewerb:
2. Bundesliga
Tabellenstand:
9.
Kadergröße:
31
Letzter Transfer:
Bradley Ibrahim