Martin Kind (li.) und Utz Claassen gemeinsam
Insbesondere dem alten Vorstand um Ex-Präsident Dr. Hans Wöbse wurde in Hannover zu diesem Zeitpunkt Misswirtschaft vorgeworfen. So soll dieser nach laut „HAZ“-Berichten noch im Februar 1997 in einem Aufsichtsratsprotokoll einen Überschuss von rund 700.000 DM für das Geschäftsjahr 96/97 prognostiziert haben. WEDIT hatte für eben jenes indes einen Jahresfehlbetrag von knapp 2 Mio. und ein negatives Vereinsvermögen von 4,7 Mio. DM errechnet. Hinzu wies die Gesellschaft eine Deckungslücke von 3,8 Mio. DM für das Geschäftsjahr 97/98 auf. „Sollte diese durch Sponsorengelder, Verzichtserklärungen der Berufsgenossenschaft beziehungsweise sonstige Maßnahmen nicht auszugleichen sein, halten wir angesichts der buchmäßigen Überschuldung, der negativen Fortbestehungsprognose und der nicht in ausreichendem Umfang erkennbaren stillen Reserven den Konkursbestand für gegeben“, hieß es in dem WEDIT-Bericht. „Der Aufsichtsrat ist durch den alten Vorstand getäuscht worden. Ihm wurden falsche Zahlen aufgetischt, da ist vernünftiges Arbeiten unmöglich“, so Claassen damals.
Rückblick Juli 1997: Der damals 34-jährige Wirtschaftswissenschaftler und Vorstandsvorsitzende der Sartorius AG in Göttingen hatte sein Amt als Vorstandschef der Roten mit großen Vorschusslorbeeren angetreten. Als Sanierer sollte er den Verein wirtschaftlich wieder in die Spur bringen.
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„Wenn der nicht der Richtige ist, kann man 96 einstampfen. Ministerpräsident Gerhard Schröder hat mir gesagt, dass Claassen einer der besten Wirtschaftsexperten im ganzen Land ist. Was können wir da also falsch machen?“- 96-Ehrenratssprecher Edgar Jennebach in der „HAZ“ über Utz Claassen - “
Der gebürtige Hannoveraner galt als 96-affin, dennoch schlug ihm im Umfeld und unter den Anhängern von Beginn an viel Skepsis entgegen – während man Claassens wirtschaftliches Know-how nicht anzweifeln konnte, sprachen viele ihm indes ein sportliches ab. Parallelen zum heutigen Verhältnis zwischen Teilen der 96-Fangruppierungen und dem aktuellen Präsidenten Martin Kind sind unverkennbar.
Claassen basierte sein Sanierungskonzept auf drei von ihm formulierte Säulen: Sportlicher Erfolg, wirtschaftliche Solidität und Ordnungsmäßigkeit. „Es kann nur sportlichen Erfolg durch Sanierung geben“, erklärte der Klub-Chef und fügte an: „Ohne Sanierung gibt es Konkurs.“ Er kommunizierte von Beginn an die prekäre finanzielle Lage des Vereins. So habe bereits zwei Tage nach seinem Dienstantritt das Finanzamt eine Zwangsvollstreckung angeordnet, die erst im letzten Moment abgewendet werden konnte. Die Ablösesummen von fünf Spielern, das Vereinsheim und die Invaliditätssumme des früheren Profis Milos Djelmas seien bereits teilweise verpfändet, berichtete die „HAZ“.
Kritisiert wurden vom neuen Vorstand auch die „Hinterlassenschaften“ in Sachen Sponsoring. Laut „HAZ“-Angaben bestand der Pool zum damaligen Zeitpunkt aus knapp 50 Mitgliedern, die sich mit Summen zwischen 5.000 und 150.000 DM engagierten. Bei einigen soll jedoch das Verhältnis zwischen investierten Geldern und erhaltenen Gegenleistungen des Vereins (in den meisten Fällen freier Stadion-Eintritt und Saison-VIP-Karten) nicht gestimmt haben – dafür, dass sich einige Unternehmen „Sponsor von Hannover 96“ nennen durften, zahlte der Verein demnach sogar jährlich drauf. „Diesen Mist habe ich geerbt“, wurde Claassen in der „HAZ“ zitiert. Weiterhin müsse man mittelfristig die Rahmenbedingungen der Spiele verbessern: „Die Gegner sind unterschiedlich attraktiv. Um die Zuschauerzahlen annähernd konstant zu halten, müssen wir einiges tun. Ein Besuch bei 96 muss ein Wochenenderlebnis für die ganze Familie werden.“
Die ersten Maßnahmen im Rahmen eines vorläufigen 1,3 Mio. DM umfassenden Sparpakets hatte der Präsident bereits wenige Wochen nach seiner Amtsübernahme verkündet. Der Kader der Regionalliga-Mannschaft von Reinhold Fanz sollte um drei Spieler reduziert werden, um die Gehaltskosten zu drücken. Zwar verkündete Claassen, dass absolute Leistungsträger davon nicht betroffen sein sollten, dennoch zog er damit den Unmut der sportlichen Leitung auf sich.
Reinhold Fanz erinnert sich: „Herr Claassen hat damals im Verein viel durcheinandergewirbelt. Er forderte zum Beispiel, dass unser Kader nur noch aus maximal 18 oder 19 Spielern bestehen sollte. Wir hatten damals ja – Gott sei Dank – durch die jungen Spieler mehr als 20 Mann zur Verfügung. Natürlich weißt Du nie, wann und wie gut sich so ein junger Spieler entwickelt, aber es war für uns sportlich natürlich in der damaligen Situation ein Riesen-Vorteil, dass wir dieses Potenzial noch hinten dran hatten. Wie gesagt: Wenn ein Stammspieler ausfiel, hattest Du diese Jungs noch in der Hinterhand – im Tor mit Raphael Schäfer und Heinz Müller zum Beispiel zwei richtig gute Leute, die im Notfall für Jörg Sievers hätten einspringen können.“
Hinzu kam eine wochenlang anhaltende Debatte zwischen Vorstand und sportlichem Bereich hinlänglich der Prämienzahlungen. Auch diese sollten zunächst heruntergefahren werden, was dem Vernehmen nach bei großen Teilen der Mannschaft nicht gut ankam. In den Tagen vor dem DFB-Pokalspiel gegen Borussia Mönchengladbach Anfang August eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien erstmals. Der Aufsichtsrat stellte sich gegen Manager Franz Gerber, der die Interessen der Spieler vertrat. Unmittelbar vor der Partie erhielt Gerber überraschend seine Kündigung vom Verein.
Reinhold Fanz weiter: „Irgendwann kamen einige Spieler selbst mit der Bitte um Rat auf Franz Gerber und mich zu. Da ging es dann unter anderem um Prämienverhandlungen, die Herr Claassen scheinbar ab sofort selbst führen wollte – das hat dann laut deren Angaben aber nicht so geklappt und viele wollten nicht mehr mit ihm verhandeln. Vor dem Pokalspiel gegen Borussia Mönchengladbach wurde dann Franz Gerber entlassen. Ich erinnere mich noch, dass wir am Nachmittag vor dem Spiel trainieren wollten – aber es wurde kurzfristig eine Mannschaftssitzung einberufen, zu der Herr Claassen hinzukam. Er sprach der Mannschaft und dem kompletten Team, also auch Franz Gerber und mir, darin das Vertrauen aus. Die Sitzung ging glaube ich über mehrere Stunden, so dass wir hinterher gar nicht mehr trainieren konnten. Wir sind dann im Anschluss zumindest noch ein bisschen gelaufen, um den Kopf frei zu bekommen. Als wir dann am Trainingsplatz ankamen, rief Franz‘ Frau an, dass gerade ein Bote seine fristlose Kündigung vorbeigebracht hätte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist die ganze Geschichte dann natürlich eskaliert.“
Reinhold Fanz weiter: „Die Mannschaft und ich haben dann in der Konsequenz vorerst unser eigenes Ding gemacht und wir haben Franz Gerber einfach wieder dazu geholt. Wir sagten uns, wenn Claassen ihn nicht mehr als Manager dabei haben will, dann setzt er sich gegen Gladbach eben in seiner zu dem Zeitpunkt ja ebenfalls noch bestehenden Funktion als Vorstand auf die Bank. Ein Vorstandsmitglied allein konnte das andere ja nicht entlassen. Das lag dann im Aufgabenbereich des Aufsichtsrats. Die Stimmung vor diesem Gladbach-Spiel war ziemlich heiß – auch auf den Tribünen. Die Fans haben damals ja auch ganz klar Stellung bezogen.“
Die Situation und der Streit zwischen Claassen und Gerber spitzten sich in den Folgewochen weiter zu (Anm. d. Red.: Siehe auch Chronik am Kapitelende im Detail). Der Manager erhielt mehrfach seine Kündigung, Fanz und Teile der Mannschaft ergriffen wiederholt öffentlich Partei und stellten sich gegen Claassen und den Vorstand. Letzterer legte unter anderem auf einer Pressekonferenz Vertragsdetails von Spielern offen, um so das Fehlverhalten der sportlichen Leitung aufzuzeigen (Anm. d. Red.: Siehe auch Chronik am Kapitelende im Detail). Während Claassen Fanz und Gerber vorwarf, ihre persönlichen wirtschaftlichen Interessen über jene des Vereins zu stellen und „mit ihrem Verhalten dafür verantwortlich“ zu sein, „dass sich die Situation deutlich verschärft hat“, schossen diese zurück. Claassen und der Aufsichtsrat würden den Verein mit ihrem Sanierungskonzept und dem Konkursszenario „bewusst gegen die Wand fahren“, ihre Zahlen seien fragwürdig und falsch.
„Die Konkurs-Situation war in der Form in meinen Augen nicht gegeben. Die Mannschaft hatte ein enorm großes Potenzial und mit Dermech und Kovacec hatten wir ja auch bereits „Notverkäufe“ getätigt, die uns für Wechsel innerhalb der Regionalliga verhältnismäßig sehr gutes Geld einbrachten. Wenn es wirklich ganz eng geworden wäre, hätte man sicherlich noch weitere Spieler verkaufen können – durch die guten Leistungen waren unsere jungen Spieler ja deutschlandweit längst in aller Munde und Angebote gab es genug“, sagt Reinhold Fanz heute. Auch das Argument, man könne aufgrund der finanziellen Notsituation die von der Berufsgenossenschaft erhöhten Spieler-Beiträge nicht mehr zahlen, sei laut dem Trainer hinfällig gewesen. „Der DFB hatte sich damals ja schon früh in die Verhandlungen mit der Berufsgenossenschaft eingeschaltet und die geplanten Beitragserhöhungen gedrückt – ansonsten hätten viele kleine Vereine gar nicht weiter existieren können.“ In Folge der Debatte sollten die BG-Beiträge direkt von den erhaltenen TV-Geldern der Vereine abgezogen werden, so dass die Klubs mit ihren Zahlungen nicht mehr in Rückstand gerieten.
Der Machtkampf wurde in großen Teilen öffentlich geführt und ließ so nach Außen hin ein chaotisches Erscheinungsbild des Vereins entstehen, das konträr zum positiven Image der Mannschaft lief, welches diese sich durch sportliche Leistungen im Vorjahr wieder erarbeitet hatte. Diese Tatsache trug nicht zuletzt dazu bei, dass die Gewinnung neuer Sponsoren sich schwierig gestaltete. Die in dieser Phase für den Verein nicht unwesentlich wichtige Rekrutierung von Investoren stockte weiter, potenzielle Geldgeber blieben zurückhaltend.
Bereits Ende August hatte Hannover 96 in Anbetracht der Lage eine ordentliche Mitgliederversammlung für den 26. September einberufen. Claassen kündigte später an, an diesem Abend die Vertrauensfrage stellen und über Neuwahlen abstimmen lassen zu wollen. Als potenzielle Kandidaten hatten sich bereits der Unternehmer Martin Kind und Ex-96-Profi Bastian Hellberg in Position gebracht. Kind verkündete im Vorfeld der Versammlung via Pressemitteilung, er sei überzeugt, den Konkurs abwenden zu können. Er warf Claassen vor, „ein Schreckensszenario“ darzustellen, bezeichnete dessen Äußerungen als verantwortungslos und maßgeblich dafür, dass 96 einen herben Imageverlust zu verzeichnen habe. „Der Mann qualifiziert sich durch diese Äußerungen selbst ab“, kommentierte Claassen, laut dessen Aussagen sich 96 seit dem 15. September im Konkursverfahren befand.
Die Mitgliederversammlung war aufgrund des zu erwartenden Andrangs vom Beethovensaal des Congress Centrums in die Wülfeler Brauereigaststätte verlegt worden. Seit Mitte August hatte 96 im Rahmen der Machtkämpfe mehrere hundert Neu-Mitglieder zu verzeichnen, deren Stimmberechtigung jedoch im Vorfeld unklar blieb, da es aus Reihen des Vereins Proteste gegeben hatte. Franz Gerber hatte indes noch am Vortag öffentlichkeitswirksam via „HAZ“ verlauten lassen: „Die können kommen. Die gehören dazu.“ Auch die Mannschaft hatte ihr Kommen trotz des am nächsten Tag anstehenden Meisterschaftsspiels gegen Emden angekündigt.
Reinhold Fanz bilanziert:
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Ich glaube, dass auch diese Phase die Mannschaft und auch das Trainerteam untereinander noch mehr zusammengeschweißt hat, weil wir gesagt haben: Egal, was passiert – wir ziehen das jetzt durch…“
Die Chronik der Amtszeit von Utz Claassen bei Hannover 96 (Quelle: HAZ/Spiegel)